Präsident Chen löst mit Äußerung politisches Beben aus
In einer Videoansprache an die 29. Jahresversammlung des Weltbundes taiwanischer
Landsmannschaften am 3. August in Tokio erklärte Präsident Chen Shui-bian, auf
beiden Seiten der Taiwan-Straße bestehe ein Staat (yi bian yi guo) und
Taiwan müsse ernsthaft die Verabschiedung eines Referendumsgesetzes betreiben,
um die Souveränität des Landes zu schützen. Zudem wiederholte er Äußerungen,
mit denen er schon in den Wochen zuvor - seitdem er Mitte Juli den Vorsitz der
Regierungspartei DPP übernommen hatte - Aufsehen erregt hatte: Taiwan müsse
seinen eigenen Weg gehen, sollte China bei seiner feindseligen Haltung bleiben.
(TT, 4.8.02; ST, 4.8.02)
Chens Äußerungen erregten weltweit Aufsehen und die Befürchtung, sie könnten
erneut die Spannungen zwischen China und Taiwan verstärken. Vor allem der Hinweis
auf ein mögliches Referendum war Grund zur Sorge, sieht China in einer Volksabstimmung
über den Status Taiwans doch erklärtermaßen einen Kriegsgrund. Chen ging in
diesem Punkt noch einen Schritt über die von seinem Amtsvorgänger Lee Teng-hui
(Li Denghui) vorgetragene Doktrin von den speziellen zwischenstaatlichen Beziehungen
zwischen Taiwan und China hinaus - Lee hatte damit im Juli 1999 heftiges Säbelrasseln
auf dem Festland ausgelöst.
Nachdem sich in der Vergangenheit stets herausgestellt hatte, dass Militäraktionen
in der Taiwan-Straße auf der Insel zu nichts anderem als einem Solidarisierungseffekt
mit den verhassten Befürwortern taiwanischer Eigenständigkeit führen, beließ
es China diesmal bei verbalen Gegenschlägen, Kritik an Chens Äußerungen kam
jedoch von nahezu allen Seiten, während namhafte Mitglieder seiner Regierung
und Partei ihren Inhalt abzuschwächen und ihre Bedeutung herunterzuspielen suchten.
Selbst engste Parteigenossen und Vertreter von Chens politischer Linie zeigten
sich irritiert. Chang Chun-hsiung (Zhang Junxiong), Generalsekretär der Regierungspartei
DPP, ??erklärte, ein Referendum würde nur zur Verteidigung von Taiwans Status,
nicht zu dessen Änderung eingesetzt, und Präsident Chen sei nicht dahingehend
misszuverstehen, dass er zu einer Änderung des Status quo aufrufe. Andere Parteifreunde
äußerten, Chen habe nur die Wirklichkeit beschrieben.
Offenbar hatte Chen seine Suada mit niemandem abgesprochen. Dies betraf auch
den Rat für Festlandsfragen unter seiner Vorsitzenden Tsai Ing-wen (Cai Yingwen).
Der Rat ist das zentrale chinapolitische Experten- und Politikformulierungsgremium
der Regierung. Tsai hatte am meisten Mühe, den entstandenen Schaden zu richten
und flog dafür eigens in die USA. Schon zuvor erklärte sie in Taiwan, dass Taiwans
Chinapolitik unverändert bliebe. Präsident Chen habe "übers Wochenende", d.h.:
gleich nach seiner Ansprache, klargestellt, was er gemeint habe. Dies betreffe
folgende drei Punkte:
Dass Taiwan seinen eigenen Weg gehe, bedeute nichts anderes als den Weg zu Demokratie,
Freiheit, Menschenrechten und Frieden. Keineswegs habe Chen auf eine anstehende
Unabhängigkeitserklärung Taiwans hinweisen wollen. Die Aussage, auf beiden Seiten
der Taiwan-Straße bestehe ein Staat, beschreibe lediglich die Realität: Taiwan
werde nun einmal nicht von China regiert. Keineswegs sei damit ein Politikwechsel
intendiert. Hinsichtlich des Referendumsgesetzes habe Chen lediglich klarstellen
wollen, dass nur die 23 Millionen Taiwaner und niemand sonst über den Status
des Landes und ihre eigene Zukunft entschieden. Es handele sich beim geplanten
Gesetz um eine präventive Maßnahme; ein Referendum komme nur als defensive Maßnahme
in Frage, falls China Taiwan nötigen wolle, sich Doktrinen wie der Ein-China-Formel
oder der Politik "ein Land, zwei Systeme" zu unterwerfen. Nach wie vor gelte
die Chinapolitik des fünffachen Nein, die Chen in seiner Antrittsrede am 20.
Mai 2000 verkündet hatte - sie lässt sich als Versprechen zusammenfassen, am
Status quo nichts zu ändern. Dazu gehörte die Zusicherung, "kein Referendu??m
zur Änderung des Status quo im Hinblick auf die Frage Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung
zu fördern, solange die kommunistische Regierung des Festlandes nicht mit militärischer
Gewalt gegen Taiwan vorgeht".
Noch stärker rückte Premierminister Yu Shyi-kun (You Xikun) von Chens Äußerungen
ab. Auf einem Transitstopp in New York erklärte er am Abend des 5.8., ein Referendumsgesetz
werde lediglich erwogen und eine Verabschiedung sei nicht dringend, solange
das Festland keine Absicht zur Gewaltanwendung erkennen lasse. Tatsächlich liegt
dem Parlament allerdings bereits der Entwurf eines solchen Gesetzes vor.
Premier Yu trug mit seiner Abschwächung dem Umstand Rechnung, dass die größten
Irritationen offenbar in den USA entstanden waren. Eine Gruppe von protaiwanischen
Kongressabgeordneten sah sich in ihrer Lobbyarbeit für Taiwan desavouiert; es
sei, wie kolportiert wurde, irreparabler Schaden entstanden. Tsai Ing-wen flog
am 7.8. in die USA, um möglichst viel zu retten. Dabei wies sie darauf hin,
dass Chen nicht von einem unabhängigen Taiwan gesprochen hatte. Unter scharfem
Protest seitens der chinesischen Botschaft traf Tsai in Washington mit Vizeaußenminister
Richard Armitage zusammen - ein Indiz für die Stärke, die das von Chen ausgelöste
politische Beben in der US-Hauptstadt erreicht hatte. Ein Sprecher des Nationalen
Sicherheitsrats wiederholte gegenüber Tsai die bekannte Position, wonach die
USA eine Unabhängigkeit Taiwans nicht unterstützen. Man nehme aber, wie es hieß,
die Erklärungen zur Kenntnis, wonach Chens Äußerungen keine Änderung von Taiwans
Politik bedeuteten. Nicht bei allen Gesprächspartnern gelang es Tsai jedoch,
die Irritationen auszuräumen. Schon zuvor hatte sich Chen in Taipei vom dortigen
inoffiziellen Vertreter Washingtons "ernste Ermahnungen" anhören müssen.
Zur Entschärfung der Situation versuchte auch Taiwans Militär beizutragen: Es
setzte ein Seeübung ab, um, wie es hieß, "Missverständnisse zu vermeiden". Chinesische
Manöve??r, die unterdessen auf der Festlandseite der Taiwan-Straße stattfanden,
bezeichnete ein taiwanischer Armeesprecher als routinemäßig.
Drei Tage nach seinen kritisierten Äußerungen begann auch Chen selbst, öffentlich
zurückzurudern. Die Bemerkung, auf beiden Seiten der Taiwan-Straße gebe es einen
Staat, sei aus dem Kontext gerissen worden. Treffender wäre es, von einer "Doktrin
gleicher Souveränität" zu sprechen. War Taiwans Börsenbarometer TAIEX am 5.8.,
dem ersten Handelstag nach den Äußerungen, noch um 284 Punkte abgestürzt, zog
er nach deren Abschwächung wieder kräftig an.
In den internationalen Pressekommentaren herrschte Rätselraten über die Motive,
die Chen zu seinen Äußerungen bewegten. Von den vielen angebotenen Erklärungen
vermochte jedoch keine recht zu überzeugen. Dem angerichteten Glaubwürdigkeitsschaden
- der für Chen vorhersehbar gewesen sein muss - stand keinerlei erkennbarer
Gewinn gegenüber. Gegenüber China wich Chen von seiner auf Vertrauensbildung
zielenden Linie zu einer Zeit ab, da erste Entspannungszeichen sichtbar wurden,
und diskreditierte sich als möglicher Dialogpartner wohl für den Rest seiner
Amtszeit. Gegenüber den protaiwanischen Kräften in den USA zeigte er sich als
unzuverlässig.
Ende des Monats schob Chen eigene Erklärungen zu seiner Motivation nach. Demnach
habe es sich nicht um unbedachte Äußerungen gehandelt, sondern um ein "wohl
erwogenes Element seiner umfassenden Sicherheitsstrategie für das Land". Diese
erläuterte er mit den Argumenten, die bereits wenige Tage nach dem 3. August
von Chang Chun-hsiung und Tsai Ing-wen vorgetragen worden waren. Wieso diese
Argumente zum betreffenden Zeitpunkt die getätigten Äußerungen erfordert haben
sollen, ging aus Chens Erklärungen nicht hervor. (ST, 4.8., 8.8., 9.8.02; TT,
5.8., 7.8., 8.8., 9.8., 10.8., 11.8., 31.8.02; FT, 5.8.02; NZZ, 6.8.02; FAZ,
6.8.02; TH, 6.8., 7.8.02; CNAT, nach BBC PF, 3.8., 7.8., 8.8.02; WSJ, 6.8.02;
SCMP, 9.8.02)
Da Präsident Chen unmitte??lbar nach der Übernahme des DPP-Vorsitzes mit der
- zunächst gemäßigten - Verschärfung seines Tons begonnen hatte, liegt die Vermutung
nah, dass er seine Chinapolitik nunmehr deutlicher nach der DPP-Linie ausrichten
zu können glaubt in der Hoffnung, angesichts der intransigenten Haltung Beijings
dafür nun breitere Zustimmung in der Bevölkerung zu finden. Seine Erklärungen
von Ende August legen diese Deutung ebenfalls nahe. Angesichts der militärischen
Bedrohung scheint er Taiwan als eine Schicksalsgemeinschaft zu empfinden, die
sich ihrer selbst - ihrer Rechte, Chancen und Stärken - bewusster werden muss,
als sie es bisher war. Womöglich soll auch die Öffentlichkeit Druck auf die
Oppositionsparteien ausüben, gegen deren Willen das zur Beratung anstehende
Referendumsgesetz nicht verabschiedet werden kann.
Sollte dies Chens Ansicht und Absicht gewesen sein, mussten ihm nachfolgende
Umfragen jedoch zu denken geben. Zwar hielt eine Mehrheit der Befragten seine
Äußerungen für zutreffend, die Quote derer, die Präsident Chen generell zustimmen,
fiel jedoch auf unter 50% und erreichte damit ein Jahrestief. Auch die übrigen
Zahlen ergeben kein günstiges Bild für Chen. Am 5. August hielten zwar 64% der
Befragten die These "jede Seite ein Staat" für richtig, wenn jedoch 36% dieser
Aussage nicht zustimmen können und Taiwan (oder die VR China?) nicht als Staat
ansehen oder dazu keine Meinung haben, so zeigt dies, dass sich über ein Drittel
der Bevölkerung nicht mit Taiwan als Staat identifiziert; explizit für falsch
hielten die These 27%. Die Auffassung, Taiwans Zukunft müsse mittels eines Plebiszits
entschieden werden, unterstützten je nach Umfrage zwischen 56 und 62% - auch
dies zwar eine Mehrheit, aber doch ein beunruhigend niedriger Wert. Hier spiegelt
sich vermutlich die altbekannte Tatsache wider, dass eine stabile Mehrheit der
Bevölkerung auf Grund von Sicherheitsbedenken am Status Taiwans nicht rütteln
möchte und für ein Referendum daher ebenso wenig einen Bedarf sieht wie für
n??eue Formulierungen zur Beschreibung des Status quo.
(CNAT, nach BBC PF, 6.8., 7.8.02; ST, 6.8., 7.8., 14.8.02)
Hans-Wilm
Schütte