Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/1998
Gunter Schubert
Die Taiwanfrage und die nationale Identität Chinas
Vorläufige Fassung / Preliminary version
Das Problem des Nationalismus bzw. der Konstruktion und Politisierung nationaler und kultureller Identität hat nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein neues Gewicht in den internationalen Beziehungen gewonnen. Denn seitdem hat die Welt eine Welle nationalistisch motivierter Kriege erlebt, die den Traum der viel beschworenen "Neuen Weltordnung" unter demokratischen und marktwirtschaftlichen Bedingungen mit einer gänzlich anderen Realität konfrontierten, besonders gewaltsam in Zentralasien und im Kaukasus, in Ex-Jugoslawien sowie in Zentral- und Ostafrika (Ruanda, Burundi, Zaire, Somalia). Was auch die konkreten Gründe für die teilweise unvorstellbar grausamen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen der betreffenden Staaten waren und sind, so steht fest, daß der ethno- oder religiös-nationalistische Konflikt ein Brennpunkt des internationalen Krisenmanagements der kommenden Jahre sein wird. Er ist Ausdruck eines komplexen Prozesses im "postideologischen" Zeitalter, bei denen wirtschaftliche und soziale Mißstände in vielen Transformationsgesellschaften, aber auch psychosoziale Identitätsfindungsbedürfnisse mit der Politisierung ethnischer und kultureller Differenzen innerhalb eines Gemeinwesen einhergehen und dabei nationalistisch aufgeladen werden. Oder es findet eine Einebnung solcher Unterschiede statt, wobei das Ziel der Konstruktion eines machtpolitisch instrumentalisierbaren Nationalismus dasselbe bleibt. Die Gefahren solcher Konstruktionen zu erkennen, sie zu "dekonstruieren" und damit in neue Modi der Verständigung zu überführen, wird eine der großen Aufgaben der internationalen Politik der kommenden Jahre sein.
Vor diesem Hintergrund richtet der folgende Beitrag sein Augenmerk auf die derzeitigen Beziehungen zwischen der Volksrepublik China und Taiwan, die sich in den letzten Jahren erheblich verschlechtert haben und nach dem "handover" in Hongkong besonders brisant erscheinen. Denn hier konkurrieren zwei unterschiedliche Ansprüche auf staatliche Souveränität, die das gegenwärtige chinesische Staatsverständnis im Kern berühren und vor allem die Machtfrage in der Volksrepublik China tangieren. Anders ausgedrückt: Die nationale Identität Chinas ist eng mit dem Verhältnis zwischen Taiwan und der Volksrepublik China verkoppelt, dessen Zukunft deshalb auch entscheidenden Einfluß auf die innerchinesische Lage (Tibet, Xinjiang) sowie die chinesische Außenpolitik in Südostasien (Spratley-Konflikt) ausüben wird. Damit aber besitzt der chinesisch-taiwanesische Konflikt eine entscheidende Bedeutung für die Sicherheit in der gesamten asiatisch-pazifischen Region. Es ist die nationalistische Dimension dieses Konfliktes, die gleichermaßen Gegenstand als auch zentraler Bestandteil seiner Lösung ist.
Die Lage
Seit der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China am 1. Juli 1997 werden die taiwanesisch-chinesischen Beziehungen vielerorts verstärkt unter dem Gesichtspunkt diskutiert, ob das Modell "ein Land - zwei Systeme" auch als Grundlage einer Vereinigung der beiden chinesischen Republiken dienen könne. Für die Regierung in Beijing ist dies keine Frage, sondern Programm. Nach der Eingliederung Macaos im Dezember 1999 soll mit Taiwans "Heimholung" die immer wieder beschworene "heilige chinesische Einheit" endgültig vollendet werden. Dieses Ziel steht ganz oben auf der außenpolitischen Agenda Beijings, wie zuletzt auf dem 15. Parteitag der KPChina im September letzten Jahres von Staats- und Parteichef Jiang Zemin noch einmal unterstrichen wurde. Notfalls würde man auch eine militärische Lösung suchen, wenn aller gute Verhandlungswille der Volksrepublik China nicht helfe.
Die Regierung der Republik China, wie Taiwan amtlich heißt, verneint jedoch entschieden eine Vergleichbarkeit der Hongkong- mit der Taiwanfrage. Mehr als einmal hat sie darauf hingewiesen, daß eine chinesische Wiedervereinigung nach Maßgabe des Modells "ein Land - zwei Systeme" nicht mehr als ein Wunschdenken Beijings widerspiegele und mit den realen Gegebenheiten nichts zu tun habe. So besitze Taiwan im Gegensatz zu Hongkong eine eigene, demokratisch gewählte Regierung, die diplomatische Anerkennung von immerhin 30 Staaten, eine schlagkräftige Armee und außerdem die notwendige Entschlossenheit der Bevölkerung, sich gegen jeden Einverleibungsversuch der Volksrepublik China zur Wehr zu setzen. Die Bürger Taiwans seien gegen eine Autonomielösung, wie sie "ein Land - zwei Systeme" vorsehe und wollten an der nationalen Souveränität der Republik China festhalten.
Hinter diesen Verlautbarungen stehen grundsätzlich verschiedene Auffassungen der Regierungen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße bezüglich der Zukunft eines geeinten Chinas, die kaum miteinander vereinbar sind. Tatsächlich stecken die bilateralen Beziehungen derzeit in einer Sackgasse, aus der - unter Absehung von der Möglichkeit einer gewaltsamen Lösung - nur dann herauszukommen ist, wenn eine Seite ihre Position substantiell modifiziert. Damit aber wäre sofort die Frage der nationalen Identität Chinas gestellt, der in dem gesamten Konflikt für beide Seiten die Funktion eines argumentativen Rechtfertigungsrahmens zukommt.
Das Problem
Für die Regierung der Volksrepublik China ist die Taiwanfrage zumindest formell bereits seit langem gelöst. Spätestens mit dem Einzug Beijings in die Vereinten Nationen 1971 und dem gleichzeitigen Ausscheiden des dortigen Vertreters der Republik China habe die Staatengemeinschaft die Volksrepublik China endgültig als den einzig legitimen Vertreter Gesamtchinas akzeptiert. Außerdem haben sich alle Staaten, die diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China aufnahmen, explizit dazu bekannt, daß Taiwan ein integraler Bestandteil Chinas, also der Volksrepublik China, ist. Deshalb könne die Insel lediglich den Status einer chinesischen Provinz für sich beanspruchen. Jedem Versuch der taiwanesischen Regierung, diesen Tatbestand mit Bemühungen um eine internationale Anerkennung als Republik China zu hintertreiben, werde daher eine entschiedene Absage erteilt. Und jeder Staat, der sich mit dem Renegatenregime in Taipei gemeinmache, müsse die Konsequenzen tragen, also mit handelspolitischen Nachteilen rechnen oder aber den Abbruch seiner diplomatischen Beziehungen zu Beijing hinnehmen.
An die Adresse der taiwanesischen Regierung gerichtet steht offiziell das Angebot, entsprechend des Ein-China-Prinzips und auf der Grundlage einer erweiterten Version des Modells "ein Land - zwei Systeme" die Wiedervereinigung zügig zu verwirklichen und Taiwan dabei weitreichende Autonomie bis hin zur Aufrechterhaltung einer eigenen Armee zuzubilligen. Inakzeptabel ist demzufolge aber jeder Kompromißvorschlag, der auf eine chinesische Zweistaatlichkeit hinausläuft. Das bedeutet nicht nur die kategorische Ablehnung einer formal erklärten taiwanesischen Unabhängigkeit, sondern impliziert auch, daß schon der Anschein einer solchen Eigenstaatlichkeit - etwa durch eine gleichrangige Mitgliedschaft Taiwans in den Vereinten Nationen oder in anderen Organisationen wie etwa der APEC - tabu ist.
In Taiwan interpretiert man die gegenwärtige Lage ganz anders. Jahrzehntelang vertrat die Regierungspartei Guomindang die Auffassung, sie repräsentiere auch nach ihrer Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg und ihrer Flucht nach Taiwan Gesamtchina. Tatsächlich konnte sie diese Fiktion - v.a. durch die Unterstützung der USA - bis zu dem oben erwähnten Jahr 1971 mit ihrem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch völkerrechtlich durchsetzen, bevor die Republik China aus den VN ausschied und damit endgültig auf das Territorium der Insel Taiwan und einigen ihr vorgelagerten Inseln zurückgeworfen wurde. Nach dem Beginn der politischen Demokratisierung Mitte der 80er Jahre verabschiedete sich die Regierung unter dem Reformpräsidenten Li Denghui dann allmählich von ihrem Alleinvertretungsanspruch. Heute geht sie davon aus, daß China aus zwei politischen Gebilden bzw. Entitäten bestehe, die jeweils einen bestimmten Teil des chinesischen Territoriums verwalten und in Ausübung dieser Funktion als souveräne Staaten zu betrachten sind. Insofern zeigt man sich zwar damit einverstanden, daß Taiwan ein Teil Chinas ist, nicht aber etwa der Volksrepublik China. Einen chinesischen Gesamtstaat kann es aus dieser Perspektive erst nach einer friedlichen und demokratischen Wiedervereinigung der beiden existierenden Entitäten geben. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfe die Volksrepublik China das legitime Interesse der Republik China nach internationaler Anerkennung nicht behindern, zumal sie dadurch das gemeinsame Ziel einer Wiedervereinigung nur verzögere bzw. die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung stärke.
Wegen eines privaten Besuchs Li Denghuis in den USA im Juni 1995 verhärteten sich die Fronten zwischen Beijing und Taipei, nachdem seit 1991 immerhin und relativ regelmäßig Gespräche auf semi-offizieller Ebene stattgefunden hatten und eine Reihe von Vereinbarungen zur Lösung "technischer" Probleme zwischen beiden Seiten (z.B. über die Repatriierung von Arbeitsmigranten und Flugzeugentführern, die gegenseitige Beglaubigung von Urkunden und anderen Dokumenten, Fischereiprobleme etc.) getroffen werden konnten. Der USA-Besuch des taiwanesischen Präsidenten war jedoch wohl nur der letzte Auslöser für eine schon länger zu erwartende harsche Reaktion Beijings auf die von der Regierung Li Denghui seit einigen Jahren erfolgreich betriebene Außenpolitik der "flexiblen Diplomatie" und der "substantiellen Beziehungen" sowie auf die für den März 1996 vorgesehenen, ersten direkten Präsidentschaftswahlen auf Taiwan. Die Antwort der chinesischen Führung eskalierte in zahlreichen Militärmanövern, die die Volksbefreiungsarmee zwischen Juli 1995 und jenem März 1996 - teilweise mit scharfer Munition - vor der taiwanesischen Küste durchführte, und die die USA sogar zur Entsendung zweier amerikanischer Flugzeugträgerverbände in die Straße von Taiwan veranlaßte.
Seitdem gibt es zwar Bemühungen auf beiden Seiten, die blockierten Gespräche wieder in Gang zu bringen, doch scheiterten diese Versuche bisher am prekären Souveränitätsproblem, das vor allem aus der Sicht der Volksrepublik China von der taiwanesischen Regierung völlig unbefriedigend behandelt wird. Was bis Mitte 1995 noch möglich war, nämlich trotz unterschiedlicher Auffassungen in der Frage des politischen Status' Taiwans auf quasi-offizieller Ebene miteinander zu reden, ist derzeit nicht machbar. Denn nach den Präsidentschaftswahlen von 1996 hat sich für die chinesische Regierung die Situation in Taiwan noch einmal qualitativ verändert. Sie steht heute einer gereiften Demokratie gegenüber, in der die Möglichkeit, daß sich Volkes Stimme für eine taiwanesische Unabhängigkeit und eine endgültige Verabschiedung des gesamtchinesischen Gedankens in die Geschichte entscheidet, reale Gestalt angenommen hat. Die oppositionelle Demokratische Fortschrittspartei (DFP), die sich die Unabhängigkeit Taiwans zum Ziel gesetzt hat, könnte in den kommenden Parlamentswahlen Ende 1998 erstmals eine Mehrheit erringen. Sie will in Einklang mit ihrem Parteistatut ein Plebiszit über die Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit durchführen. Vor diesem Hintergrund scheinen die Machthaber in Beijing derzeit nur ihre überkommene Position zu zementieren und dunkel mit der militärischen Option drohen zu können.
Diese Politik hat sich jedoch bereits als kontraproduktiv erwiesen. So zeigen Umfrageergebnisse, daß die Unterstützung für taidu - dem chinesischen Kurzbegriff für "taiwanesische Unabhängigkeit" - während der von chinesischen Militärmanövern begleiteten Präsidentschaftswahlen im März 1996 von 13,1 auf 18,1 Prozent emporschnellte (vgl. Schaubild 1). Zusammen mit der größten Gruppe der status-quo-Befürworter, die zumindest an der de-facto-Unabhängigkeit Taiwans festhalten wollen, steht somit eine breite Bevölkerungsmehrheit den Anhängern einer chinesischen Wiedervereinigung gegenüber. Allerdings wollen auch diese keine Wiedervereinigung unter den augenblicklichen Bedingungen des "Sozialismus chinesischer Prägung", sondern allenfalls ein Zusammengehen in einem demokratischen und freien China. Dasselbe gilt für jene politischen Kräfte, die wie die von jüngeren Festländern dominierte Neue Partei (Xindang) oder die chinanationalistische Allianz für demokratische Reformen (Xin tongmenghui) - eine außerparlamentarische Organisation vor allem älterer Festländer - ständig vehement gegen eine taiwanesische Unabhängigkeit Front machen. Somit gibt es auf Taiwan wohl niemanden, der eine Wiedervereinigung zum heutigen Zeitpunkt will.
Unabhängigkeit vs. Wiedervereinigung? Das Meinungsbild in der taiwanesischen Bevölkerung (1991-1996)
1991 |
1992 |
1993 |
1994 |
1995 |
1996 |
|
Pro-Unabhängigkeit |
3,3 |
7,0 |
10,4 |
13,4 |
13,1 |
18,1 |
Pro-Wiedervereinigung |
25,4 |
17,0 |
27,5 |
26,9 |
24,1 |
22,4 |
Pro-Status Quo |
54,8 |
52,9 |
43,6 |
44,4 |
47,9 |
49,2 |
Keine Antwort |
16,5 |
23,1 |
18,5 |
15,3 |
14,9 |
10,3 |
(Quelle: Chen Wen-chun, "National Identity and Democratic Consolidation in Taiwan: A Study of the Problem of Democratization in a Divided Country", in: Issues & Studies, Jg. 33, Nr. 4, April 1997, S.1-44)
Doch es ist noch ein weiterer Faktor zu bedenken. Die taiwanesische Gesellschaft befindet sich nach gut zehn Jahren demokratischer Praxis mitten in einem Orientierungsprozeß, in dem die Frage der nationalen Identität Taiwans grundsätzlich diskutiert wird. Die von der Guomindang (GMD) der Inselbevölkerung jahrzehntelang autoritär oktroyierte Idee einer chinesischen Nation, zu der Taiwan selbstverständlich gehöre, wird heute von Teilen der politischen Eliten und der Intellektuellen, aber auch von der "normalen" Bevölkerung selbst problematisiert, wenn nicht gar offen infrage gestellt. Warum soll Taiwan eigentlich zu China gehören, wenn es doch seit über 100 Jahren nicht mehr vom chinesischen Festland aus regiert wird? Hat sich in dieser Zeit nicht längst eine eigene taiwanesische Kultur gebildet, die sich von der chinesischen Kultur deutlich unterscheidet? Und selbst wenn man die kulturellen Bande, z.B. die chinesische Hochsprache oder gemeinsame Dialekte, religiöse Kulte sowie viele Sitten und Gebräuche, nicht verleugnen kann - bedeutet dies denn automatisch, daß man sich damit in der Frage der staatlichen Zugehörigkeit an China binde? Um was für ein China handelt es sich denn dabei? Warum muß eine gemeinsame Kultur notwendigerweise zu einem chinesischen Staat führen? Auch die deutsche Kultur verteilt sich schließlich auf unterschiedliche Staaten, und das chinesisch dominierte Singapur gehört bekanntlich nicht zur Volksrepublik China. Könnte man sich nicht eine chinesische Konföderation vorstellen, in der Taiwan seine politische Eigenständigkeit behält, aber aus Gründen einer gemeinsamen kulturellen Tradition und nicht zuletzt wegen der beiderseitigen wirtschaftlichen Beziehungen eng mit der Volksrepublik China zusammenarbeitet?
Diese Fragen rühren, so kann man leicht erkennen, an die Grundlagen des chinesischen Staatsverständnisses, wie es von der Guomindang auf Taiwan lange vertreten wurde und wie es von der KPChina auf dem chinesischen Festland bis heute vertreten wird. Kultur und Politik bilden demnach eine Einheit. Grundlage dieses Staatsverständnisses ist ein unverhüllter Kulturnationalismus. Eines der entscheidenden Probleme zwischen Taiwan und der Volksrepublik China besteht darin, daß dieser Kulturnationalismus in Taiwan durch den politischen Wandel "säkularisiert" wurde, die Einheit von Politik und Kultur sich somit allmählich auflöst. Dies wird deutlich an der nur mühsam verklausulierten heutigen Forderung der taiwanesischen Regierung nach einer chinesischen Zweistaatlichkeit. In der Volksrepublik China hingegen wird der Kulturnationalismus - unter den Bedingungen eines undemokratischen Systems - als nicht hinterfragbare Realität chinesischer Staatlichkeit behandelt und fungiert zudem als ideologisches Bindemittel für die Stabilisierung der erodierenden Herrschaftslegitimation der KPChina. Aus dieser Perspektive befindet sich Taiwan in einer ähnlichen Situation wie Tibet, die Innere Mongolei oder Xinjiang, deren - ethnisch allerdings nicht han-chinesische - Bevölkerungen allenfalls einen begrenzten Autonomiestatus erhalten können und in jedem Fall Teil der chinesischen Nation (in ihrer offiziellen Lesart) bleiben müssen.
Auch wenn jene Stimmen auf Taiwan, die eine vom chinesischen Festland klar unterscheidbare taiwanesische Kultur behaupten und auf dieser Grundlage eine unabhängige taiwanesische Republik fordern, in der Minderheit sind und auch in Zukunft kaum zu einer Mehrheit werden dürften, so ist doch zumindest eines schon heute klar: Das Bewußtsein, in einem souveränen Staat zu leben, vielleicht sogar schon eine eigene Nation zu bilden, setzt sich bei immer mehr Taiwanesen fest. Das bedeutet nicht eine - ohnehin kaum begründbare - Ablehnung der chinesischen Kultur, wohl aber ein Abschied von der Vorstellung, diese Kultur müsse notwendigerweise zu einem gemeinsamen chinesischen Staat führen. Hier überschneidet sich das Denken einer zunehmend größeren Gruppe aus DFP- und GMD-Anhängern - ungeachtet ihres emotionalen Bekenntnisses zu einer unabhängigen Republik Taiwan einerseits oder einer demokratischen gesamtchinesischen Republik andererseits. Sollte es der DFP Ende 1998 tatsächlich gelingen, die Mehrheit im nationalen Parlament zu erringen und zwei Jahre später sogar die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, so stünde eine formale Unabhängigkeitserklärung auf der Tagesordnung. Aber auch ohne eine von der DFP geführte Regierung rückt die Möglichkeit einer chinesischen Wiedervereinigung aus taiwanesischer Perspektive mit jedem ins Land gehende Jahr in immer weitere Ferne - trotz des ungelösten Sicherheitsproblems, das mit der Interventionsdrohung der Volksrepublik China verbunden ist.
Szenarien
Dies alles kann der politischen Führung in Beijing natürlich nicht gefallen. Unverdrossen hält sie an der geübten Praxis fest, die taiwanesische Regierung international zu isolieren, ihr die verbliebenden diplomatischen Partnerstaaten abspenstig zu machen, alle Länder mit Sanktionen unterschiedlicher Art zu bedrohen und zu belegen, die sich Taiwan zu sehr annähern oder für die politischen Ambitionen der Inselrepublik Partei ergreifen, und von Zeit zu Zeit mit dem Säbel zu rasseln, entweder durch Militärmanöver in unmittelbarer Nähe von Taiwans Küsten oder aber mit dem gut plazierten Hinweis auf die unverändert geltende Option einer gewaltsamen Befreiung der taiwanesischen Bevölkerung von "ausländischen Kräften" und vom "Komplott" der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung. Gleichzeitig unterstreicht die chinesische Regierung, jederzeit zu Verhandlungen über eine Entspannung und Vertiefung des bilateralen Verhältnisses bereit zu sein, solange sich die taiwanesische Regierung zum Ein-China-Prinzip bekenne und nicht weiter die Spaltung des Vaterlandes betreibe.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß diese Politik in die Sackgasse geführt hat, weil sich die taiwanesische Position als ebenso unnachgiebig erweist. Welche Optionen hat nun die chinesische Regierung, aus dieser Sackgasse herauszufinden? Und was implizieren diese Optionen mit Blick auf das Entstehen eines neuen Begriffs nationaler Identität in der Volksrepublik China? Im wesentlichen sind vier Szenarien und daran gekoppelte Definitionen von "chinesischer Nation" vorstellbar, die ich in der Reihenfolge ihrer Wahrscheinlichkeit anführe, auch wenn hier auf der Grundlage einer Rationalität argumentiert wird, die nicht unbedingt die der chinesischen Führung ist:
1. Die Volksrepublik China löst die Taiwanfrage militärisch. Etwa im Jahr 2005, so schätzen Experten, wird die Volksbefreiungsarmee endgültig jene waffentechnologische Überlegenheit besitzen, die zu einer erfolgreichen und relativ verlustarmen Invasion Taiwans erforderlich ist. Eine Seeblockade der Insel ist prinzipiell schon heute möglich, und sie würde über kurz oder lang wohl Erfolg haben. Entsprechende Pläne scheinen in den Planungsstäben der VBA angeblich schon längst ausgearbeitet bereitzuliegen.
2. Die Volksrepublik China akzeptiert die Unabhängigkeit Taiwans bzw. die Gründung einer Republik Taiwan nach einem auf der Insel durchgeführten Referendum und damit die endgültige Abspaltung der Insel von China.
3. Die Volksrepublik China akzeptiert eine chinesische Zweistaatlichkeit, hält allerdings - etwa nach dem deutschen Modell - an der Konzeption einer gesamtchinesischen Nation und nationalen Wiedervereinigung fest. Taiwan wäre es erlaubt, unter der Bezeichnung Republik China Mitglied der Vereinten Nationen zu werden und auch sonst als souveräner Staat aufzutreten, doch müßte jede taiwanesische Regierung am Gedanken der chinesischen Einheit festhalten und diese schrittweise zu verwirklichen suchen. Eine taiwanesische Unabhängigkeit käme somit nicht infrage, aber jede gegen Taiwan gerichtete militärische Drohung unterbliebe.
4. Die Volksrepublik China hält an ihrer jetzigen Politik fest und bemüht sich, den Druck unterhalb der Schwelle der direkten militärischen Konfrontation - v.a. durch eine systematische Isolierungspolitik sowie durch das Ausspielen der "Unternehmerkarte", also durch die energische Anwerbung taiwanesischen Investitionskapitals mit der daraus resultierenden ökonomischen Abhängigkeit der taiwanesischen Volkswirtschaft vom Festland - zu erhöhen.
Szenario 1, die militärische Lösung, stößt auf eine Reihe von Problemen. Besonders schwer dürfte für die chinesische Führung die Frage wiegen, ob die USA eine gewaltsame Intervention hinnähmen. Immerhin läßt sich aus dem "Taiwan Relations Act" von 1979 eine gesetzliche Verpflichtung für die amerikanische Regierung ableiten, im Falle einer militärischen Bedrohung Taiwans schützend einzugreifen. Die Entsendung zweier Flugzeugträger in die Straße von Taiwan im März 1996 hat gezeigt, daß die USA einer solchen Intervention wahrscheinlich nicht tatenlos zusehen würden. Sicherlich würde auch das internationale Ansehen und die regionale Glaubwürdigkeit der Volksrepublik China in bezug auf ihre immer wieder proklamierte Friedfertigkeit schweren Schaden nehmen, obwohl daraus nicht unbedingt langfristige politische Konsequenzen folgen müßten. Denn immerhin gilt die Taiwanfrage als innerchinesische Angelegenheit. Viel gravierender dürfte vielmehr der zu erwartende Widerstand der taiwanesischen Bevölkerung sein. Der Sieg der kommunistischen Bewegung entsprang selbst einer Geschichte von Unterdrückung und Repression in China - und Geschichte kann sich bekanntlich wiederholen, bei gleichen Bedingungen auch zu ungunsten der KPChina.
Szenario 2, die Anerkennung einer sich von der gesamtchinesischen Idee lossagenden unabhängigen Republik Taiwan ist ebenfalls kaum wahrscheinlich. Abgesehen von den überkommenen Vorstellungen einer notwendig unitarisch verfaßten chinesischen Kulturnation - eine Konzeption, dies sei zumindest angedeutet, die seit dem späten 19. Jahrhundert durch abweichende Narrative nationaler Identität allerdings mehrfach gebrochen wurde - würde hiermit ein gefährlicher Präzedenzfall mit möglicherweise weitreichenden innenpolitischen Konsequenzen für die Volksrepublik China geschaffen. Bricht Taiwan weg, könnten die sezessionistischen und separatistischen Bewegungen in Tibet und dem chinesischen Nordwesten bis hinauf in die Innere Mongolei erheblichen Auftrieb erhalten. Der chinesische Staat würde seine Integrität aufgeben - und damit ein nationaler Mythos zerstört.
Szenario 3, die chinesische Variante des deutschen Modells zwischen 1949 und 1989, ist weniger radikal als Szenario 2, doch erforderte auch sie eine substantielle Abkehr der Volksrepublik China von ihrem derzeitigen Staatsverständnis mit denselben soeben dargestellen Gefahren. Der Vorteil dieses Szenarios läge für Beijing darin, daß die radikalen Befürworter einer taiwanesischen Unabhängigkeit geschwächt werden könnten, weil sich deren Stärke und Mobilisierungskraft vor allem aus der Frustration der Inselbevölkerung wegen der Ausgrenzungs- und Bedrohungspolitik der chinesischen Regierung speist. Dennoch bedarf es für einen solchen Schritt einer konzeptionellen Wende in der geltenden Taiwanpolitik Beijings, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erkennen ist.
So scheint Szenario 4, die Fortführung der jetzigen Linie, das mittelfristig wahrscheinlichste Szenario zu sein. Dafür sprechen mehrere Gründe. So spielt vor allem der Druck der taiwanesischen Unternehmer auf ihre Regierung, endlich den Weg freizumachen für direkte Transport- und Handelskontakte mit der Volksrepublik China, der jüngst auch von Seiten der USA ausgeübt worden ist, der chinesischen Führung in die Hände. Es ist ihre unverkennbare Strategie, die Investitions- und Profitinteressen der taiwanesischen Geschäftswelt gegen die auf Zeit und Vorsicht setzende Chinapolitik der taiwanesischen Regierung auszuspielen. Abgesehen davon ist der von Beijing auf viele Länder der Dritten Welt und des Westens ausgeübte politische Druck, sich in Sachen Taiwan willfährig zu verhalten, weitgehend erfolgreich. Zwar besitzt Taiwan enge Kontakte zu zahlreichen Staaten auf sub-offizieller Ebene, doch sind den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kontakte Grenzen gesetzt. Niemand will seine Beziehungen zur Volksrepublik China wegen Taiwan aufs Spiel setzen. Von dieser Perspektive aus betrachtet ist die chinesische Stategie also durchaus erfolgreich. Sie führt jedoch zu jener eingangs erwähnten Blockade im taiwanesisch-chinesischen Verhältnis, die die Inselbevölkerung zunehmend vom chinesischen Festland entfremdet und die somit den Interessen der Unabhängigkeitsbewegung zuarbeitet. Zusätzlich wird auf diese Weise das überkommene und von der GMD-Regierung lange Zeit geteilte chinesische Staatsverständnis weiter ausgehöhlt, ohne daß sich eine friedliche Lösung des Taiwankonfliktes bzw. eine stabile Neudefinition des kulturellen und nationalen Verhältnisses beider Seiten abzeichnete.
Ausblick
Zusammenfassend ergibt sich aus dieser Konstellation die Schlußfolgerung, daß eine gewaltlose und langfristig stabile Lösung der Taiwanfrage nur dann vorstellbar ist, wenn die Volksrepublik China ihre derzeitige Haltung modifiziert und eine chinesische Zweistaatlichkeit zuläßt. Taiwan ist aus seiner - durchaus begründeten - Perspektive nicht mit Hongkong oder Macao zu vergleichen, sondern ein de facto seit langem unabhängiger Staat, dem seine völkerrechtliche Souveränität sowohl von der Volksrepublik China als auch von der großen Mehrheit der Staatengemeinschaft aus offenkudigen, letztlich aber fragwürdigen Gründen verweigert wird. Es ist auch aus der Sicht dieses Autors unrealistisch, zu glauben, irgendeine taiwanesische Regierung, sei sie nun GMD- oder DFP-regiert, verzichte freiwillig auf die Souveränität Taiwans - ein Punkt, der von jeder auch noch so weitgehenden Autonomieregelung im Sinne des Modells "ein Land - zwei Systeme" allerdings gefordert werden würde. Zudem existiert in Taiwan mittlerweile ein konsolidiertes demokratisches System, getragen von einer selbstbewußten und stark politisierten Bevölkerung, die intransparente und unkontrollierte Verhandlungen über das politische Schicksal ihres Gemeinwesens nicht zulassen würde. Unter diesen Voraussetzungen von einer unhinterfragbaren Souveränität der Volksrepublik China über Taiwan zu sprechen, wie die Regierung in Beijing dies fortwährend tut, ist selbstreferentiell und nicht mehr kommunizierbar. Nur eine Regelung auf dem Boden des deutschen Modells könnte die augenblickliche "strukturelle" Blockade beheben und vielleicht sogar eine chinesische Wiedervereinigung friedlich herbeiführen, sollte sie je von einer durch ein demokratisches Verfahren festgestellten oder durch öffentliche Bekundung überzeugend dokumentierten Mehrheit der taiwanesischen Bevölkerung gewünscht werden.
Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Denn eine solche Kehrtwende in ihrer Taiwanpolitik würde die Volksrepublik China dazu zwingen, den Begriff der nationalen Identität Chinas neu zu definieren. Diese dürfte nicht mehr länger als exklusive Legitimationsressource für die Herrschaft der KPChina dienen bzw. als nicht diskutierbare Gewißheit jedem Dialog entzogen sein, sondern müßte als Chance begriffen werden, das allen Chinesen Gemeinsame jenseits einer unitarisch verfaßten Staatlichkeit anzusiedeln und dabei die wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit in den Mittelpunkt einer neuen Begriffsdefinition zu stellen. Der daraus möglicherweise entspringende Gedanke einer chinesischen Konföderation wirft jedoch seine Schatten auf das innerchinesische Machtgefüge. Ohne eine substantielle Demokratisierung und Föderalisierung des politischen Systems der Volksrepublik China ist deshalb eine entsprechende Rekonzeptualisierung des chinesischen Nationalismus nicht zu erwarten.
© Friedrich Ebert Stiftung | August 1998